Mondgöttinnen

Vor Anker in Manarola

Kapitel 3

Chiara stand am Oberdeck des Ausflugsschiffes. Ihr dunkles, schulterlanges Haar leuchtete in der Frühlingssonne. Aufmerksam betrachtete sie die ligurische Küste, die langsam an ihr vorbeizog. Der Duft des Meeres stimmte sie melancholisch. Sie fühlte sich, als würde sie nach einer langen Reise endlich ankommen, in einem Hafen landen und ankern, für immer möchte sie hier bleiben. Diese Sehnsucht spürte sie schon als kleines Mädchen, immer hatte es sie zum Meer hingezogen.

Das Schiff bog um einen schroffen Felsvorsprung, der steil in das blaue Meer ragte. Endlich der erste Blick auf Manarola, ein malerisches Dorf in den Cinque Terre. In allen Farbtönen gestrichene Hausfassaden, von rot, orange über gelb und violett funkelten ihr entgegen. Die mehrstöckigen Häuser, aberwitzig ineinander verschachtelt, aufgetürmt, an den Hängen emporgewachsen, strahlten eine unglaubliche Wärme aus.
Chiara griff in ihre Handtasche. Ohne zu schauen, fühlte sie das dünne Pergamentpapier und die breite Schleife, die um etliche Briefumschläge gebunden war. Sie wollte sich überzeugen, ob das Päckchen noch da war. Das Schiff näherte sich dem Hafen und ihr Herz schlug mit jedem Meter, dem sie sich der Mole näherten, schneller.

Chiara dachte an die Worte von Katharina, mit der sie drei Wochen zuvor gesprochen hatte:
„29 Jahre ist es her, als ich ihn kennenlernte, ich war als Kellnerin auf Saison in den Tiroler Bergen. Er war in der Küche des Nachbargasthofes angestellt. Schon bei unserer ersten Begegnung hüpfte mein Herz. Er war so ein fröhlicher Mann mit einer wunderbaren Ausstrahlung. Ihm ging es wohl ähnlich, wollte er doch gleich ein erstes Rendezvous mit mir. An unseren freien Stunden haben wir uns öfters fortgestohlen, Spaziergänge gemacht, sind die Berge hoch gewandert. Wir hatten so viel Spaß und waren uns von Anfang an vertraut und tief verbunden. Einen Lieblingsort hatten wir auch gefunden, eine zu dieser Zeit leer stehende Almhütte. Wir lagen dann vor dem Kaminfeuer, eng umschlungen und so sehr verliebt ineinander.“

***

Chiara ging an Land. Heute würde sie ihn erstmals sehen. Würde ihm endlich gegenüber stehen und seine Stimme hören. Sie folgte den gewundenen Treppengassen entlang der schmalen Hauptstraße den Hang hinauf. Nur wenige Touristen waren um diese Jahreszeit hier. Sie hielt kurz an und las die Straßenbezeichnungen an den Hauswänden. Immer und immer wieder hatte sie daheim auf einer Karte den Weg studiert, der zu ihm führen würde. Sie kannte ihn auswendig, obwohl sie noch nie hier war. Ihr ganzes Leben war sie noch nie so nervös gewesen wie heute. Wieder dachte sie an Katharinas Worte:
Eines Tages aber war er fort. Ohne Abschied und ohne Erklärung hat er Österreich verlassen. Ich lief verzweifelt zum Küchenchef des Gasthauses und fragte nach. Der hat mich jedoch wütend aus der Küche geschmissen, mit den Worten – Nach Italien, dort wo er hingehört, und hoffentlich nicht mehr wiederkommt, dieser Mistkerl – Ich habe nie erfahren, wo er wohnt. Ich wusste nur seinen Vornamen – Maurizio.

***

Von weitem sah Chiara die kleinen, weiß gedeckten Tische vor der Trattoria. Schöne Terrakottatröge, mit Kräutern, Ginster, Hyazinthen und Oleander bepflanzt, trennten diese Trattoria von einem benachbarten Ristorante. Vereinzelt saßen Gäste an den Tischen. Chiara nahm Platz und fühlte ihr Herz rasen.
Ein junger Kellner kam an den Tisch und fragte sie freundlich, was er ihr bringen dürfe. Chiara bestellte ein Glas Vino della casa, fasste all ihren Mut zusammen und fragte nach Maurizio. Der Kellner antwortete in gebrochenem Deutsch: „Maurizio? Il Padrone di casa? Eh, ich hole.“
Aus der Trattoria hörte sie Stimmen und die üblichen Geräusche eines Gastbetriebes. Kurz darauf betrat ein großer, schlanker Mann Anfang fünfzig mit pechschwarzen, fülligen Haaren die Veranda. Sein Gesicht mit einigen Lachfalten um die dunklen Augen war tief gebräunt, die Ärmel des weißen Hemdes hochgeschoben und die dunkle Hose von einer leuchtend roten Schürze bedeckt. Er wischte seine bemehlten Hände in der Schürze ab und kam zu Chiaras Tisch.
„Signora, wie kann ich Ihnen helfen?“ Wie selbstverständlich wechselte er in die deutsche Sprache. Er beherrschte sie gut, aber das wusste sie bereits.
Mit zittriger Stimme antwortete Chiara:
„Ich soll dir Grüße von Katharina überbringen.“ Maurizio sah sie verwundert an, atmete tief durch, nahm den Stuhl zur Seite und setzte sich ihr gegenüber hin.
„Von Katharina? Oh, das ist aber lange her!“ Er sprach leise und senkte seinen Blick, fixierte die weiße Tischdecke. Der Kellner brachte Wein und Focaccia, Chiara musste sofort einen Schluck nehmen, ihre Kehle war trocken und brannte.
Maurizio sah sie mit traurigen Augen an.
„Erzähl mir bitte von Katharina. Es muss fast 30 Jahre her sein, seit ich sie zuletzt gesehen habe.“
Nun begann Chiara alles, was sie von Katharina erfahren hatte, zu erzählen.
Maurizio richtete seinen Blick in die Ferne, auf die bunten Hauswände der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Augen waren immer noch sehr traurig, obwohl er doch ein fröhlicher Mann gewesen war, wie Katharina meinte.
Als Chiara von Maurizios plötzlicher Abreise erzählte, lehnte er sich zurück, strich mit seiner schmalen, feingliedrigen Hand über sein Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Mein Vater lag im Sterben, ich musste dringend nach Ligurien zurück. Der Küchenchef war außer sich vor Wut und hat mich noch in der Nacht rausgeschmissen. Vier Wochen später kam ich wieder nach Österreich zurück, ich wollte Katharina alles erklären. Da war sie aber schon abgereist. Ich habe bei meiner Ankunft die Chefin des Hotels aufgesucht und mich nach Katharina erkundigt. Sie meinte, Katharina wollte dringend nach Hause, nach Deutschland, zu ihrem Vater. Aber die Hotelchefin hat gleich gemerkt, dass ich sehr verliebt war in Katharina und hat mir die Adresse gegeben.“

Einige Zeit saßen sie still da. Jeder in Gedanken versunken. Bis Chiara weiter erzählte:
„Der Vater von Katharina, ein Witwer, war ein verbitterter, ehemaliger General der deutschen Streitkräfte im 2. Weltkrieg. Er hat sie einige Wochen nach ihrer Ankunft aus Österreich zu einer Tante aufs Land geschickt und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Bis zu seinem Tod vor drei Monaten hat sie nie mehr von ihm gehört. Als sie das Haus ihres Vaters dann schlussendlich ausräumen musste und den Schreibtisch öffnete, hat sie das hier gefunden.“ Chiara bückte sich zu ihrer Handtasche, nahm das verschnürte Paket und legte es vor Maurizio auf den Tisch.
Maurizio hielt den Atem an, er starrte auf die Briefumschläge, die fein säuberlich aufeinander lagen.
„Mein Gott, die Briefe an Katharina! Sie hat mir nie geantwortet. Jahrelang habe ich ihr geschrieben.“ Mit zittrigen Fingern strich er über die rote Schleife, die um die Umschläge gebunden war.
„Aber Maurizio, Katharina hat die Briefe nie gesehen! Ihr Vater hat sie nicht geöffnet. Sie lagen verschlossen in einer Ecke der Schublade. Erst jetzt, vor ein paar Wochen, konnte sie alle Briefe lesen und hat erfahren, dass du sie so vermisst hast.“
Maurizio betrachtete die Briefe lange, atmete schwer und sank in sich zusammen, er wirkte gebrochen.
„Was ist denn passiert? Wieso hegte der Vater so einen Groll auf Katharina?“, wollte er wissen.
Chiara lehnte sich nach vor, sah Maurizio tief in die Augen.
„Katharina kam schwanger heim aus Tirol, Maurizio. Ihr Vater hat sie aufs Übelste beschimpft. Hat ihr vorgeworfen, sie hätte den Namen der Familie in den Schmutz gezogen! Noch dazu ein Italiener als Vater des Bastards, ein Verräter der schlimmsten Sorte und nie wolle er jemals im Leben das Enkelkind sehen.“
Maurizio starrte Chiara an. Er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder. Und nun begann er sie zu mustern, ihre dunklen Augen, das schwarze Haar, die schmalen, feingliedrigen Hände. Er hielt eine Hand vor den Mund und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit der anderen Hand fasste er nach Chiaras Händen und er zögerte noch, bevor er fragte:
„Katharina ist deine Mutter? Und ich….ich….?“
Chiara lächelte, drückte seine Hand und nickte.
Die Sonne versank langsam im Meer und tauchte die Häuser in ein sattes Orange. Chiara richtete ihren Blick in die Ferne, spürte, jetzt war sie angekommen und bald wird auch Katharina hier ankommen.

 

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Ein weiteres Kapitel meiner „mystischen Frauen vom Waldrand“ – ich hatte leider nur immer vergessen, die Geschichte hier hochzuladen 🙂 . Chiara ist die Großnichte von Sophie und die Tochter von Katharina – langsam fügt sich alles zusammen. Ich arbeite gerade noch an weiteren Geschichten der Mondgöttinnen – momentan nimmt gerade wieder eine Fortsetzung am Monatswettbewerb Mai vom Schreiblust-Verlag teil (Thema: „Hexenverfolgung“ 🙂 – wie passend zu Sophie, oder?). Ich werde ihn demnächst hochladen.

Mondgöttinnen

Die Mondgöttin

Kapitel 2

heute ist wieder eine Kurzgeschichte von mir auf www.verdichtet.at erschienen:

Die Mondgöttin

Sie läuft barfuß hinter dem alten Hund her, ihre dunklen Locken, die bis zur Mitte des Rückens reichen, wehen im Sturm. Das geblümte Kleid klebt an ihren nackten Beinen, es ist durchnässt. „Hank! Warte auf mich!“ Das kleine Mädchen kann dem Hund nur schwer folgen, es weiß aber, dass er auf der Suche nach Schutz ist und ihm den Weg weisen wird. Hinter ihm öffnet sich der Boden, aus schmalen Kratern quillt eitrige Masse, vermischt mit lavaähnlicher Brühe, alles schwappt über seine Knöchel, es stinkt ganz ekelerregend und das Mädchen muss würgen. Es läuft weiter, der Wind peitscht Regen, Hagel und Schnee gegen sein Gesicht. Der Hund hält immer wieder an und wartet auf das Mädchen.
An einem Bachlauf springen Forellen aus dem Wasser, landen auf der blutenden Erde, schwänzeln verzweifelt in der Luft. Das Gewässer verfärbt sich blitzschnell dunkelrot und beißender Mief erfüllt die Umgebung. Bald haben sie den Wald erreicht. Hinter einer großen Hecke kriechen Schlangen, Würmer, Kröten und Echsen hervor, sie fliehen ebenso vor der sich öffnenden Erde. Aus den Baumrinden tropfen dicke, harzähnliche Absonderungen, die Äste kringeln sich ein, sind plötzlich tot, starr, es stinkt nach Ammoniak.
„Hank, hilf mir, ich kann nicht mehr!“ Das Mädchen ringt nach Luft, der Ammoniakgestank treibt ihm Tränen in die Augen. Es dreht sich um, die Schlangen, Echsen und Kröten folgen ihnen. Die Fußsohlen des Mädchens schmerzen, trotz Regen und Schnee beginnt der Wald nun zu brennen, fängt Feuer. Der Himmel verdunkelt sich und es kann nichts mehr sehen. Nun ist der Hund an seiner Seite und führt es weiter. Vor ihnen teilt sich plötzlich der Weg, das Mädchen nimmt Anlauf und springt dem Hund hinterher, stolpert und versinkt mit einem Fuß im Morast. Das Mädchen schreit auf, mit Händen und auf Knien versucht es, sich aus dem Abgrund zu befreien. Sein Herz schlägt bis zum Hals, es weint und fleht und krabbelt auf allen Vieren weiter … Schlangen streifen seine Hände und Arme, schlingern an ihm vorbei.
Dann, endlich, sieht das Mädchen vor sich einen Felsvorsprung und dahinter eine große Weide, die von all diesem Unheil verschont geblieben scheint. Hank legt sich unter die Weide ins saftige Gras und wartet auf das Kind. Den Hund umarmend legt es sich dicht neben ihn, zitternd am ganzen Leib, und gemeinsam schauen sie dem grauenvollen Schauspiel zu, das um sie herum passiert.
„Mutter Erde, Mutter Erde, was ist mit dir? Wo tut‘s denn weh?“, schreit das Mädchen laut in den Abendhimmel.
***
Chiara reißt die Augen auf und ringt nach Luft, an ihrem Bett sitzen Großtante Sophie und ihre Mutter Katharina.
„Schatz, es war nur wieder dieser Traum. Es ist alles gut, wir sind ja da.“ Chiara weint und ist schweißgebadet. Ihre Mutter streichelt ihr sanft über die Stirn und küsst sie, die Großtante hält ihre Hand.
„Wieso träume ich das immer wieder?“, schluchzt sie und legt ihren Kopf auf den Schoß der Mutter.
„Du hast die Gabe, liebe Chiara. Du fühlst den Schmerz der Erde. Genau wie deine Großtante“, flüstert ihre Mutter. Die Tür öffnet sich und das Mädchen sieht das Schweifende von Hank am Bett vorbeihuschen. Der Hund legt seinen Kopf auf die Bettkante und leckt über ihren Unterarm. Chiara betrachtet ihre Großtante, die Hank nun hinter dem Ohr krault. Sie sitzt im Nachthemd da, ihre silbergrauen, dichten Haare zu einem dicken Zopf gebunden. Sie lächelt Chiara an und ihre wunderschönen, bernsteinfarbenen Augen betrachten das Mädchen liebevoll.

*** 12 Jahre später ***

Mark nimmt an einem der kleinen Tische vor der Bäckerei Platz. Er sortiert seinen Notizblock und die Stifte und bestellt sich einen Kaffee. Sein Deutsch ist zwar nicht akzentfrei, aber sehr gut. Am Nebentisch sitzt ein älteres Pärchen und mustert ihn neugierig.
„Sie sind wohl nicht von hier, was?“, fragt der Mann, der seine Hände auf einen Stock stützt.
„Ich komme aus Amerika und muss hier für eine Fachzeitschrift recherchieren“, antwortet Mark.
„Hier, bei uns? In diesem Kaff?“ Der Alte lacht laut auf. „Was soll es da zu recherchieren geben?“
„Es geht um das Thema Plastic Planet und um Mythologie. Ich bin auf der Suche nach drei Frauen, die hier wohnen. Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich sie finde?“
Der alte Mann stopft sich mit krummen, arthritischen Fingern eine Pfeife und brummt leise vor sich hin. „Die ollen Weiber vom Waldrand?“, fragt er. Die Frau daneben stößt ihm den Ellenbogen in die Seite:
„Aber Friedrich, wie redest du nur?“, entgegnet sie.
„Ist doch wahr! Früher hätte man sowas wie die auf dem Scheiterhaufen verbrannt!“
Mark macht sich ein paar Notizen und muss schmunzeln. Dieses kleine Dorf hat einen seltsamen Charme, hier läuft alles etwas ruhiger ab als in seiner Heimatstadt, als hätte man die Zeit um Jahre zurückgedreht.
„Sie müssen wissen, die Damen leben sehr abgeschieden am Waldrand und das ist vielen hier im Dorf unheimlich. Die Ältere heißt Sophie, sie streift oft stundenlang barfuß und mit wehenden Kleidern durch die Wälder, an ihrer Seite ist immer ein Hund. Man erzählt sich, dass sie vor langer Zeit eine Begegnung mit einem Wolf hatte und seither sei sie völlig verändert. Leute, die nicht so ängstlich sind, kommen zu ihr und suchen Rat und Hilfe. Sophie hat schon sehr vielen Menschen helfen können.“
„Ach, papperlapapp!“ Der alte Mann nimmt die Pfeife aus dem Mund und bläst den Rauch in die Luft. „Das ist doch alles Quatsch, den du erzählst, Mutti.“ Mark wendet sich nun der Frau zu und klopft nachdenklich mit dem Bleistift auf den Zettel.
„Wie darf ich das verstehen, ihr sei ein Wolf begegnet? Können Sie mir das näher erklären?“
Die alte Frau rutscht mit dem Stuhl nun näher an Mark heran.
„Näheres weiß niemand hier. Sie war ja damals verheiratet, aber seit sie dem Wolf begegnet ist, sei der Mann wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hat ihn je wieder gesehen. Und sie hat sich seit diesem Tag nicht nur vom Wesen her verändert, sondern auch äußerlich. Früher hatte sie blaue Augen, seit dieser Wolfsbegegnung aber sind ihre Augen wie aus dunklem Bernstein. Es leben drei Frauen in diesem Haus: Sophie, ihre Nichte Katharina und die Tochter von Katharina, sie heißt Chiara. Es wird gemunkelt, dass Katharinas Kind von einem Italiener ist, aber niemand weiß das so genau.“ Die Hände der Frau zittern nun, und sie wirkt nervös.
„Sophie und Chiara sind Sehende, müssen Sie wissen. Sie haben eine Gabe, sagt man“, flüstert sie Mark hinter vorgehaltener Hand zu.
„Kann ich unangemeldet bei den Frauen vorbeischauen? Was meinen Sie?“, fragt Mark.
Die zwei Alten sehen sich an und der Mann zuckt mit den Schultern.
„Wenn Sie meinen?! Ich wünsche Ihnen viel Glück. Die olle Sophie lässt Männer verschwinden. Passen Sie bloß auf sich auf!“
Mark notiert sich noch den Weg und marschiert los. Was für Schauermärchen, denkt er und lacht.

Nach einer Viertelstunde Fußmarsch kommt er an ein alleinstehendes Haus am Waldrand, die Fassade ist mit Lärchenholz vertäfelt, viele bunte Windspiele hängen an der Veranda, im dicht blühenden Garten sieht er vereinzelt Statuen aus Stein, elfenhafte, lächelnde Frauengestalten. Das Haus steht auf einer Anhöhe und Mark hält an, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Plötzlich kommt Wind auf, die Tonmotive der Windspiele schlagen aufeinander und eine wundersame Melodie ertönt. Die sich im Wind wiegenden Blüten lassen die Elfenfiguren manchmal verschwinden und wieder erscheinen, es sieht aus, als würden sie tanzen. Wie aus dem Nichts steht nun ein Hund am Hauseingang, stolz und erhaben kommt er auf Mark zu und hält einige Meter vor ihm an, er mustert Mark, sein Fellkleid schimmert in allen Brauntönen. Dann ebbt der Wind wieder ab, es ist still rundherum. Mark nimmt nun befremdliche Duftnoten wahr, es riecht intensiv erdig, nach Myrrhe und auch nach Moschus. Kalte Schauer laufen seinen Rücken hinunter, ihm wird übel.

Plötzlich ein leises Zischen. Mark dreht sich abrupt um! Sie steht knapp hinter ihm, ihre Augen sind geschlossen, sie ist barfuß, hat lange, grau schimmernde Haare, sie kräuselt fast unmerklich ihre Nase, ihre Nasenflügel beben – als würde sie an Mark riechen, zieht sie mit einem leisen Zischlaut die Luft durch den leicht geöffneten Mund ein. Nun lächelt sie und öffnet die Augen. Mark weicht vor Schreck zurück, er hat noch nie solche Augen bei einem Menschen gesehen, sie sind bernsteinfarben und funkeln ihn an.

Sie nimmt seine Hand und spricht mit rauer, leiser Stimme: „Wir haben Sie schon erwartet!“

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Mondgöttinnen

Die Fährte

Kapitel 1

– eine Fortsetzungsgeschichte   –   wie alles begann

Sie saß auf der Bank vor dem Haus, lehnte sich an die Holzvertäfelung und schloss die Augen. Die Morgensonne wärmte ihr Gesicht. Die Tasse Kaffee hielt sie mit beiden Händen umschlungen, wie sie es jeden Morgen machte. Es war Samstag und ihr Mann war auf Geschäftsreise. Wieder einmal, wie so oft, war sie alleine. Nur der Anwesenheit des Hundes, der neben ihr in der Wiese lag, war es zu verdanken, dass sie sich nicht einsam fühlte. „Er wird an deiner Seite sein, wenn ich unterwegs bin“, meinte er damals, als er mit dem kleinen Welpen im Arm in der Tür stand. Sie hatte Freude an dem Hund, vom ersten Tag an. Doch der Ehemann war nun immer öfter für Tage unterwegs.
Der Ruf des jungen Mäusebussards im angrenzenden Wald ließ sie aufhorchen. Sie hob die rechte Hand und beschattete ihre Augen. „Was will er uns wohl mitteilen, Hank?!“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zum Hund. Dieser hob den Kopf, den er vorher auf seine Vorderpfoten abgelegt hatte, und spitzte die Ohren.
Hank erhob sich und trabte Richtung Waldrand. Sein dunkelbraunes Fell glänzte in der Sonne, seine Bewegungen waren elegant, beinahe katzenhaft. „Hank, bleib hier! Du sollst nicht alleine in den Wald!“, rief sie ihm hinterher. Doch Hank war nicht beeindruckt. Dies war völlig untypisch für den normalerweise sehr folgsamen Hund. Sie erhob sich von der Bank, stellte die Kaffeetasse ab, pfiff auf zwei Fingern und wartete. Nichts.
Plötzlich nahm sie es wahr. Der Wald, die Stimmung, das Licht – alles war anders an diesem Morgen. Obwohl ein lauer Wind wehte, rührten sich die Blätter der Laubbäume nicht. Alles schien erstarrt, der Wald lag ruhig vor ihr, der Mäusebussard war verstummt und der Hund verschwunden. Die zarte Frühlingssonne tauchte alles in samtig gelbes Licht, die Umgebung schien von einer hauchdünnen Seidendecke eingehüllt. „Wie die Ruhe vor dem Sturm“, dachte sie.
„Hank!“, rief sie – doch sogar ihre Stimme schien von dem Licht verschluckt zu werden.
Sie holte den Mantel vom Haken in der Garderobe, schloss die Tür ab und ging in den Wald.

Ihre Schritte auf dem Schotterweg waren kaum zu hören, als ob sie mit Schalldämpfern an den Schuhen unterwegs wäre. Sie folgte dem üblichen Weg, den sie sonst gerne mit dem Hund spazierte. Irgendwo musste er doch zu finden sein? An der Weggabelung angelangt, blieb sie stehen und schaute in beide Richtungen. „Hank?“ Es war nun kein Rufen mehr, eher ein fragendes Flüstern. Und dann sah sie ihn! Die Rute des Hundes war noch zu erkennen in der Ferne, als er um eine Baumgruppe bog. Er trabte den Hügel hoch, der in ein ziemliches Dickicht führen würde.
Ihre Schritte wurden schneller, ihr Herz pochte und nun wurde sie nervös. Sie kannte ihren Hund nicht mehr, er war die ganzen Jahre noch nie weggelaufen. Der Aufstieg erwies sich als sehr mühsam, der Waldboden war locker und teilweise rutschte sie weg. Manchmal musste sie sich an einem Baum hochhanteln, so steil war es. Aber nun war wenigstens der Hund nicht mehr weit von ihr entfernt. Manchmal drehte er sich um, wartete ein Weilchen und lief dann wieder voran.
Endlich war sie bei ihm angekommen. Noch nie war sie in dieser Gegend gewesen. Sie spürte einen leichten Windhauch in ihrem schweißnassen Nacken, doch auch hier war der Wald lautlos, regungslos. Sie lehnte sich an einen Baum, musste tief Luft holen und stützte sich mit den Händen auf ihren Knien ab. „Hank, was ist heute los mit dir?“ Der Hund hechelte ein wenig, sah sie an, machte dann auf den Hinterläufen kehrt und trabte einen schmalen Pfad entlang, der zu einem großen, spitzen Felsvorsprung führte. Dann blieb er abrupt stehen, verharrte, hob gleichzeitig einen Vorderlauf und winkelte diesen an. Sie dachte, er hätte wohl Wild entdeckt in der Ferne und folgte ihm langsam. Hank starrte in eine Richtung, die für sie noch nicht frei einzusehen war. Dann war ein leises Winseln von Hank zu vernehmen, nur kurz. Hank ging vier oder fünf Schritte rückwärts, zog die Rute ein und legte sich hin.
Aufmerksam folgte sie dem Pfad – dann stand er plötzlich vor ihr, etwa vier Meter höher auf dem Felsvorsprung. Ein beeindruckendes Tier. Die bernsteinfarbigen Augen fixierten sie, ihre Blicke trafen sich. Sie blieb stehen und hielt gleichzeitig den Atem an. Der Wolf hatte graubraunes Fell, einen kräftigen Nacken, er war gut genährt und strahlte Dominanz aus. Der Wind streifte über sein Fellkleid und malte Schattierungen. Sie konnte sich nicht losreißen von seinen Augen, sie schienen so klug, so allwissend und doch auch warnend. In ihren Adern pulsierte es, ihr ganzer Körper schien zu glühen. Es war keine Angst, die sie verspürte, es war eine freudige Erwartung von etwas Unbekanntem. Ganz langsam und ruhig näherte sich dem Wolf nun von der hinteren Seite ein weiteres Tier. Es war etwas kleiner und nicht ganz so imposant, aber mit ebenso wunderschönen, bernsteinfarbigen Augen. Dahinter waren nun auch drei oder vier Welpen zu sehen, ganz jung mussten sie noch sein. Es war also die Fähe, die dem Rüden neugierig folgte, jedoch respektvolle Distanz hielt.
Der Wolf fixierte sie noch eine Weile, leckte sich dann die Schnauze und wandte sich ab. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so dagestanden hatte. Es kam ihr vor, als wären es Stunden gewesen. Als sie sich zu Hank umdrehte, lag dieser immer noch unterwürfig auf dem Pfad. Sie flüsterte: „Hank, komm, wir gehen.“ Er erhob sich ruhig und ging langsamen Schrittes voraus.
Nun war das Blätterrauschen wieder zu hören, ihre Schritte waren nicht mehr gedämpft, ein helles Licht durchflutete die Bäume. Als würde der Wald nun wieder atmen.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. „Hallo mein Schatz, wo warst du bloß so lange? Ich hab dich schon ein paar Mal am Handy angerufen. Du hast es daheim liegen lassen!“ Ihr Mann drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich konnte schon das frühere Flugzeug nehmen. Na, ist das eine freudige Überraschung?“ Er half ihr aus dem Mantel und genau in diesem Moment nahm ihre Nase Witterung auf!

Wie ein Blitz durchdrang dieses fremde Parfum ihre Riechsinneszellen. Er ließ den Mantel fallen und wich zurück. Sie stand imposant vor ihm, mit gekräuseltem Nasenrücken, bebenden Nasenflügeln und bernsteinfarbene Augen starrten ihn durchdringend an.

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