Armer kleiner Baum. Der Zaun engt ihn ein, nimmt ihm Platz, hindert ihn, sich frei entfalten zu können. Was war zuerst da? Der kleine Baum, oder der Zaun? Wer von beiden hat mehr Rechte? Wer ist schuldig an der augenscheinlichen Misere?
Hartnäckig und zielstrebig klettert die Pflanze an den Kanten des Drahtes hoch, vielleicht ist die Stütze oftmals nicht schlecht, bei Wind oder Unwetter, vielleicht schützt der Draht auch vor Fressfeinden?
Engt uns der Staat in Zeiten der Corona-Krise ein? Nimmt uns die Regierung Rechte, die uns zustehen? Oder wollen die Minister eine große Gefahr der Gesundheit und des Gesundheitswesen von uns abwenden?
Es wird ein „nach der Krise“ geben, davon bin ich überzeugt. Bedenklich finde ich die immer lauter werdenden Stimmen, die nach einem Schuldigen suchen, die täglich zunehmenden Verschwörungstheorien, die Opposition, die es sich lautstark rufend nicht mehr länger gefallen lässt, plötzlich nicht mehr angehört zu werden. Es dreht sich nicht mehr so sehr um die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, sondern vielmehr um die Rechtsfrage: wer hat Recht? Wer hat Schuld? Wer ist für die Misere, die uns nachher wirtschaftlich blüht, verantwortlich?
Ich sage: in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten!
Heute früh war eine Bachstelze damit beschäftigt, vor dem Küchenfenster Mücken im Fangflug zu erbeuten. Unsere Holzvertäfelung an der Hausmauer bietet sich hier wohl gut an. Wir haben jährlich hier im Sommer Bachstelzen im Garten. Gern halten diese sich in der Nähe von Weidetieren auf, wo sie auf Dunghaufen oder von den Tieren aufgescheucht ein reiches Nahrungsangebot findet. Unsere Pferde liefern ihnen also ebenso eine Nahrungsquelle.
Die zierliche Bachstelze war ganz emsig bei der Nahrungssuche, mit ihren Flügeln und Krallen schlug sie manchmal am Fensterglas und Fensterbrett auf. Später, als ich meinen Kaffee getrunken hatte und die tägliche Morgenzeitung online am PC lesen wollte, flatterte der kleine Singvogel am Bürofenster, welches ein Stockwerk höher liegt, vorbei.
„Was willst du mir denn sagen? So nah bist du doch selten?“, waren meine Gedanken.
Und weil ich gerne und oft in der Mythologie Antworten suche, recherchierte ich zum Krafttier Bachstelze folgende Zeilen:
Jedes mal wenn sich die Bachstelze bei dir meldet möchte sie dich auf die Leichtigkeit im Leben hinweisen, du scheinst zu viel zu Grübeln und dich in deinen Gedanken verrannt zu haben. Es ist an der Zeit, zu dir zu stehen, und dich nicht unterkriegen zu lassen. Negative Gedanken und Zweifel sperren uns ein, wie einen Vogel in einen Käfig, die Bachstelze zeigt dir, wie du dich selbst aus diesem Käfig befreien kannst. Nutze ihr uraltes Wissen und ihre Freude, welche sie in den kleinen Dingen findet, um selbst zur Kraft zu kommen.
Gestern habe ich mit meinem Mann und unserem Hund einen Waldspaziergang gemacht. Die Bewegung in der Natur tut uns gut, eine Auszeit von TV, Nachrichten und Sozialen Medien ebenso. Genug Meinungen anderer gelesen, Verschwörungstheorien dürfen keinen Raum in meinem Kopf bekommen. So wie der Wanderstock meines Mannes Halt und Sicherheit gibt, so gibt mir der Wald in der Seele Zuversicht und Freude.
Es geht eine magische Kraft aus vom Walde, ein unbestimmtes Weißnichtwas, das sänftigend auf Gemüt und Seele und anregend auf die Sinne wirkt. (Carl W. Neumann)
Mit der Natur verbunden und sie still genießen zu dürfen, ist ein großes Geschenk. Oder wie Wolf-Dieter Storl sagt: „Der beste Naturschutz, der wirksamste Waldschutz ist nicht die großspurige politische Aktion oder laute Demonstrationen, sondern in erster Linie unsere persönliche Zuwendung und unser Interesse.“
Diese Krise wird vorübergehen. Es wird Blessuren geben, nicht nur bei Arbeitgebern / Einzelunternehmern und Arbeitnehmern, es wird auch Blessuren in manchen Menschen hinterlassen. Selten hat sich nämlich auch so viel Aggressivität, versteckt in der Anonymität des WorldWideWeb, gezeigt, wie in den letzten Tagen. Auf der anderen Seite war auch erstaunlich viel Solidarität zu spüren. Ich würde mich lieber weiterhin von Zweiterem anstecken lassen und werde den lauten Aufschreien und Parolen keinen Platz mehr einräumen.
Und: mein Mann hat mir gestern einen Stock vom Waldboden ausgesucht und ihn vorbereitet. Da er noch zu schwer für mich ist und noch ein paar Unregelmäßigkeiten an der Rinde aufweist, darf ich vorerst seinen Wanderstock haben, der ihn schon etliche Kilometer begleitet hat. Er liegt sanft, leicht und geschmeidig in der Hand und weist mir garantiert den richtigen Weg voll Halt und Sicherheit.
Was hat mich diese Krise persönlich gelehrt? Ich habe so einiges über die Menschen gelernt. Manche sind egoistisch und sehen überhaupt nicht ein, sich irgendetwas „vorschreiben“ zu lassen. Ihr Hobby, ihr Sport, ihre Freizeit, ihr Job, ihr Verdienst…. wahrscheinlich sind das dann auch diejenigen, die im Nachhinein (wenn wir mit einem blauen Auge davongekommen sind aufgrund guter politischer Einschätzung) am Lautesten schreien: „Hab ich´s doch gewusst! Das war alles übertrieben.“
Ich bleibe meinem Gefühl treu, und lasse mich nicht mehr länger verunsichern oder in die Spirale der Aggression hineinziehen.
Und wenn wir alle dies, die ganze Familie, Verwandtschaft und Freunde gesund und mit hoffentlich wenig finanziellen und seelischen Blessuren überstanden haben, dann gehen wir bitte nicht auf diejenigen los, die uns eine Weile in unserer persönlichen Freiheit eingeschränkt haben, sondern erinnern uns daran, was so eine Krise zusätzlich an Positivem bringen kann. Vielleicht einen Wanderstock? Oder leuchtende, zufriedene Hundeaugen, die sich abends, nach einer langen Wanderung, müde schließen. Vielleicht auch ein neues Bewusstsein in uns selbst und über uns selbst.
„Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ (Erich Fried)
Habe das Gefühl mit Dir durch den Wald gegangen zu sein und deine Worte zur gegenwärtigen Situation und für die Zukunft sind genau richtig und wohltuend. Freu mich auf deine nächste Kurzgeschichte
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